Kuori erzähl bei einem Glas Bier am Abend bevor sie aufbrechen um Alric zu finden eine Geschichte:
»Das Land war nicht immer so wie heute. Es war größer und
weiter in jenen ersten Tagen ...«
In jenen frühen Tagen der Welt war die Wanderung mit den Karenen nicht
so mühsam wie heute. Man konnte jeden Weg auf Meilen im voraus
einsehen, und weder unwegsame Wälder noch schroffe Hügel hemmten
Schritt und Blick. Der Boden war satt und fruchtbar, und so zogen die
Hirten gemächlich und ohne Sorge mit ihren Tieren dahin.
Während heute häufig die beißende Kälte die Schritte der Tiere antreibt
und der Winter oft genug durch seine unwägbaren Launen Hunger und Tod
bringt, war Firngrim in diesen früheren Zeiten noch gnädiger mit den
Menschen: Nur für einen Monat schickte sie Schnee und Kälte über das
Land hinab, und das geschah, um den Pelz der Tiere dichter und weicher
zu machen, dem Jäger als Geschenk.
In dieser Zeit lebten Mensch und Wolf in Frieden zusammen. Als
Geschwister waren sie auf die Welt gekommen, und sie lebten im
gegenseitigen Nutzen. Niemals stritten sie um den Überfluß, und sie
vertrauten einander.
Als Mensch und Wolf sich aber entzweiten, da endete auch dieses
glückliche Zeitalter. Es geschah nämlich eines Tages, daß Liska, die
sanftmütigste und mildtätigste unter den großen Wölfen des Himmels, auf
Dere zwischen den Menschen wandelte, wie es ihre Gewohnheit war. An
diesem Tage aber war die Wölfin ungewohnt matt, denn sie trug zwei
Welpen in ihrem Leib. So gelangte sie am Abend an die Jurte von Vaê, der
Hirtin.
»Ich grüße dich, Vaê«, sprach die erschöpfte Liska, »gerne würde ich
deiner Familie und deiner prachtvollen Herde Segen bringen, doch heute
bin ich es, die deiner Hilfe bedarf. Gewähre mir Gastfreundschaft unter
deinem Dach, denn ich bin weit gelaufen und sehr müde.«
Vaê wußte, daß die Menschen in Liska eine Fürsprecherin unter den
Himmelswölfen hatten, und so nahm sie Liska gerne in ihrem Zelt auf. Sie
bereitete ihr einen Platz am Feuer, und dies war der Ort, an dem
gewöhnlich ihr Sohn Mada, der von aufbrausendem und überheblichen
Wesen war, sein Lager hatte.
»Wenn du diesem Tier also meinen Platz unter den Menschen zubilligst«,
fuhr er seine Mutter an, »dann werde ich die Nacht in Wind und Regen
verbringen, wie es einem Tier zukommt.« Mit diesen Worten lief er
zornentbrannt nach draußen, und wahrhaftig setzten Wind und Regen ihm
dort so zu, daß ihn sein Entschluß schon bald reute. Stolz aber harrte er
bis zum Morgengrauen aus und gab der Wölfin die Schuld an seinem
Ungemach.
Als er aber mit dem ersten Sonnenlicht in die Jurte trat, lagen dort noch
alle Bewohner in tiefem Schlummer. Sie hatten nämlich eine anstrengende
Nacht verlebt, da Liska in diesen Stunden ihre Welpen zur Welt gebracht
hatte. Mada fand die Jungen der Himmelswölfin an der Seite ihrer Mutter
liegen, in Liskas weiches, warmes Fell geschmiegt. Und da sah Mada, daß
der Pelz der Jungen in lauterstem Golde glänzte. Bei diesem nie zuvor
gesehenen Anblick erwachte die Gier in seinem Herz, und ehe er sich
besann, hatte er schon die Welpen gepackt und von der Mutter
fortgetragen. Als er aber das Zelt verließ, waren auch die jungen Wölfe
erwacht, und unter seinem rauhen Grif stimmten sie ein
erbarmungswürdiges Jaulen an. Mada wandte sich um, trat dann rasch
vom Eingang fort, damit die Schlafenden nicht durch die Laute der
Wolfsjun-gen geweckt wurden. Die Welpen klagten immer lauter, und in
seiner Angst schlug Mada sie mit den Köpfen zusammen. Er wollte sie nur
zur Ruhe bringen, doch er hatte Liskas zarte Welpen erschlagen.
Aber es war Mada damit nicht gelungen, seine Schandtat zu verbergen.
Schon trat nämlich Liska selbst aus der Jurte, und dort sah sie den
Menschen stehen, der in jeder Hand eines ihrer toten Jungen hielt. Liskas
silbernes Auge glühte. Mada verzagte. Schuldbewußt fiel er vor der
Himmelswölfin auf die Knie und legte die toten Welpen zu Boden.
Da aber erhob Liska die Stimme, wie sie es noch nie getan hatte: »Diesen
Tag, an dem du meine Kinder getötet hast, werdet ihr Menschen niemals
vergessen.« Die Wölfin sprach drohend und ehrfurchtgebietend, zugleich
aber war ein jeder Klang aus der Stimme verschwunden, denn ihr Herz
war leer nach dem Tod ihrer Kinder. Liska aber ließ Mada auf den Knien
zurück und eilte zu ihrem Volk, den großen Himmelswölfen.
Und es verging ein Monat, bis Liska zurückkehrte. Und mit sich brachte
sie ihren Vater Gorfang und ihre Geschwister, Reißgram und die anderen
mächtigen Himmelswölfe, um die Rache für den Tod ihrer Kinder
einzufordern. Liska erschien den Menschen schon riesenhaft groß, doch
die anderen Himmelswölfe erhoben sich so gewaltig, daß sie die Sonne
verdunkelten.
Sogleich rissen die großen Wölfe das Land mit ihren Klauen auf, und sie
fraßen es mit ihren Mäulern. Bald schon war die vormals fruchtbare Ebene
kleiner geworden und durchzogen von schroffen Abgründen und
unwegsamen Tälern. Und da die Wölfe sich entleerten, wo sie gerade
standen, kamen noch große Berge hinzu, und das Land schwamm bald in
salzigem, giftigem Wasser. Und so hätten sie wohl das ganze Land der
Menschen vollends verwüstet, wenn die Rache nicht bald Liskas sanftem
Gemüt genug gewesen wäre und sie ihren Geschwistern Einhalt geboten
hätte. So rettete Liska die Menschen, die ihr die Kinder genommen hatten,
aber die Welt blieb hinfort rauh und verwüstet, so daß die Menschen von
nun an nur noch unter größter Mühsal dem Land ihren Lebensunterhalt
abtrotzen konnten. Während Liskas Sinneswandel bald auch ihren Vater
Gorfang in mildere Stimmung versetze, blieb doch bei ihrer Schwester
Firngrim, der Wintermutter, ein steter Groll zurück. Deshalb martert
seither die Kälte über viele düstere Monate hinweg die Länder und tötet
alle, die zu schwach sind oder unvorbereitet in den Winter gehen.
Obwohl Liska nicht die Verwüstung ganz Deres wünschte, sollte doch die
Erinnerung an Madas Mordtat den Menschen vor Augen bleiben. So legte
sie die beiden goldenen Welpen in eine silberne Schale. Diese hängte sie
den Menschen gut sichtbar an das Himmelszelt, und so steht uns heute
noch das Madamal stets vor Augen und erinnert uns daran, wie das
Schicksal von Menschen und Wölfen verbunden ist. Es erinnert uns daran,
daß die besten Zeiten für die Menschen zu Ende waren, als sie ihre Brüder
und Schwestern im grauen Pelz verrieten. Wenn wir uns aber wieder um
die Eintracht mit den Wölfen bemühen, so werden wir auch das
Wohlgefallen in den Augen der Himmelswölfe sehen, die in jeder klaren
Nacht auf die Menschen herabblicken.